2011/12/01

Unterlassene Hilfeleistung und keiner ist schuld

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben ein dringendes medizinisches Problem und rufen die Rettungszentrale an, damit eine Ambulanz Sie ins Krankenhaus bringt.

Was sollte dann geschehen? Klar, werden Sie sagen, die Ambulanz kommt und bringt Sie so rasch wie möglich ins Krankenhaus. Trivial, nicht wahr!

Doch leider nicht immer. Am 30. Januar diesen Jahres tat ein 23-jähriger Mann in Stockholm genau das. Er hatte Schwierigkeiten zu atmen, rief die Rettungszentrale SOS-Alarm und verlor während des Gesprächs sogar mehrere Male das Bewusstsein. Am anderen Ende der Leitung saß ein 52-jähriger Krankenpfleger, dessen Beurteilung es überlassen war, ob das Rettungsfahrzeug sich auf den Weg machen sollte oder nicht. Er entschied sich dafür, es nicht zu tun. Die Folge: Der junge Mann starb.

Der Fall ging vor Gericht, und das Urteil wurde gestern gesprochen. Der Krankenpfleger in der Einsatzzentrale wurde freigesprochen mit der Begründung, es sei nicht zweifelsfrei nachzuweisen, dass seine Handlungsweise zwangsläufig zum Tod des 23-jährigen geführt hätte. Mit anderen Worten: Der junge Mann hätte auch dann sterben können, wenn ihn eine Ambulanz abgeholt hätte.

Das ist in etwa so, als würde man nach einem verschossenen Elfmeter von Ballack sagen: macht nichts, der Schweinsteiger hätte wahrscheinlich auch daneben geschossen.

Und natürlich ist diese Argumentation nicht völlig von der Hand zu weisen. Wir wissen nie, was passiert wäre, wenn zu irgend einem Zeitpunkt eine andere Entscheidung getroffen worden wäre. Doch das ist philosophisches Räsonieren. Wenn man dies konsequent weiterverfolgt, dann ist letztlich keiner für seine Taten verantwortlich. Der Mörder könnte sagen: Wenn ich´s nicht getan hätte, dann wäre das Opfer möglicherweise später von einem Auto überfahren worden. Mit demselben Ergebnis. Was ist der Unterschied?

Es geht mir hier gar nicht darum, den Krankenpfleger um jeden Preis im Gefängnis sehen zu wollen. Das Frappierende an dem Fall ist vielmehr, wie das "System" gewisse Dinge handhabt. Da gibt es also jemanden, der am anderen Ende der Leitung nach eigenem Gutdünken entscheidet, ob jemand anderem Hilfe geleistet wird oder nicht. Der es in der Hand hat zu sagen: "Ja, Dir helfe ich" oder "Nein, Dein Fall ist nicht schwer genug". Wie will man das per Telefon entscheiden? Und niemand hinterfragt diese Praxis. Keiner kommt auf die Idee, dass in solchen Fällen stets die Ambulanz zur Stelle sein muss. Klar wird es auch Fälle geben, in denen sich hinterher herausstellt, dass ein Einsatz überzogen war. Aber man muss sich fragen, welcher Kollateralschaden schwerwiegender ist: Todesfälle durch Nichthandeln in Kauf zu nehmen oder unnötige Einsatzfahrten.

In dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten, so hat das Gericht entschieden. Wie wär´s, wenn sich die Rettungszentrale auf eine ähnliche Maxime festlegen könnte? In dubio pro morbido! Der eine oder andere würde es ihnen danken.

Leider ist dies nicht der einzige derartige Fall in Schweden. Ähnlich erging es vor etwa einem Jahr einer jungen Frau. Auch in diesem Fall bezahlte das Opfer mit seinem Leben.

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